VG München, Urteil vom 28.4.2023
Aktenzeichen M 5 K 20.30163

Stichpunkte

Positive Entscheidung im Dublinverfahren um Überstellung ugandischer Betroffener von Menschenhandel mit verhaltensauffälligem Kind nach Italien; sehr umfassende Ausführungen zur Situation Geflüchteter in Italien; Erläuterung der Kriterien für Annahme einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung und `Schwelle der Erheblichkeit´

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) München hebt einen Ablehnungsbescheid und eine Abschiebungsandrohung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf.

Die Klägerin ist ugandische Staatsangehörige und war 2018 über Italien kommend nach Deutschland eingereist. In Italien war ihr subsidiärer Schutz zuerkannt worden, weswegen das BAMF ihren Antrag als unzulässig ablehnte und Abschiebung nach Italien androhte. Die Klägerin, die zwischenzeitlich einen zum Entscheidungszeitpunkt ungefähr 6 Monate alten Sohn bekommen hatte, gab an, in Italien mehrfach vergewaltigt worden zu sein. Eine Fachberatungsstelle hatte erklärt, die Frau sei Opfer von Menschenhandel und befinde sich in ihrer Beratung.

In einem ärztlichen Gutachten wurde der Frau eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie eine rezidivierende Depression bescheinigt.

Für den Sohn stellte ein sozialpädiatrisches Zentrum eine massive Entwicklungsstörung sowie Verhaltensauffälligkeiten fest, die permanente Beaufsichtigung bedürften. Außerdem liege ein heilpädagogischer Förderbedarf vor.

Das VG stellt fest, dass zwar grundsätzlich Italien für den Antrag der Klägerin zuständig sei, jedoch in ihrem Fall eine konkrete Gefahr einer unmenschlichen, gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßenden Behandlung bestünde.

Grundsätzlich gelte zwar innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens die Vermutung, dass die Aufnahme Schutzbedürftiger unter Beachtung der in der Grundrechtecharta festgelegten Grundrechte erfolge. Unter Hinweis auf eine grundlegende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH vom 19.3.2019stellt das VG fest, dass und wie diese Vermutung jedoch widerlegbar sei. Dies gelte insbesondere, wenn in dem ursprünglich zuständigen Staat systemische Mängel bestünden. Mängel seien dann systematisch, wenn sie im Rechts-oder Vollzugssystem angelegt seien. Solche Mängel seien von den deutschen Behörden und Gerichten entsprechend vorhersehbar.

Die zu erwartenden Mängel müssten gem. EuGH sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR vom 21.01.2011eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die nicht schon durch Verarmung oder starke Verschlechterung der Lebensbedingungen gegeben sei, sondern erst, wenn elementare Bedürfnisse wie Ernährung, Hygiene und Unterkunft nicht mehr befriedigt werden könnten.

Unter Bezug auf den EGMR erklärt das VG, im Falle besonders vulnerabler Personen sei die Schwelle aufgrund besonderer Schutzverpflichtung früher erreicht.

Das Gericht macht sehr umfassende Ausführungen zur Lebenssituation Geflüchteter, Dublin-Rückkehrer*innen und als subsidiär schutzberechtigt Anerkannter in Italien und sieht im Hinblick auf Zugang zu Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung, Wohnungs- und Arbeitsmarkt grundsätzlich für diese sowie auch für Familien mit Kindern keine Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung.

Für den Fall der Klägerin sei dies jedoch anders zu beurteilen. Gemäß der nach der Entscheidung des (BVerwG vom 04.07.2019)  anzustellenden „realistischen Rückkehrprognose“ sei hier von einer gemeinsamen Rückkehr von Mutter und Sohn auszugehen. Die Mutter müsse den Lebensunterhalt für sich und den Sohn alleine erwirtschaften.

Es sei zum einen nicht davon auszugehen, dass sie ohne Berufsausbildung eine qualifizierte Tätigkeit finde, aber auch in schlechter bezahlten Stellen oder der Schattenwirtschaft scheitere eine Arbeitsmöglichkeit voraussichtlich an fehlender Betreuung des Sohnes, der wegen Fremd-und Eigengefährdung ständiger Betreuung bedürfe.

Aufgrund dieser Situation sei auch zweifelhaft, dass es der Frau gelänge, für sich und den Sohn eine Wohnung zu finden.

Es bestehe für den Fall einer Rückkehr für die alleinerziehende Mutter eines verhaltensauffälligen Kindes demnach das Risiko, dass elementare Bedürfnisse nicht befriedigt werden könnten und beide damit einer menschenunwürdigen, gegen Art 3 EMRK verstossenden Behandlung ausgesetzt seien.  

Entscheidung im Volltext:

vg_muenchen_28_04_2023.pdf

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