EGMR, Urteil vom 28.11.2023
Aktenzeichen 18269/18 `Krachunova gegen Bulgarien´

Stichpunkte

Erste Entscheidung zur staatlichen Verpflichtung, Betroffenen von Menschenhandel ein Recht auf Schadenersatz gegen Täter*innen wegen entgangenem Lohn einzuräumen; Verstoß gegen Art. 4 EMRK (Verbot von Zwangsarbeit); Einräumung des Rechts auf Schadenersatz unabhängig von der Frage, ob Prostitution rechtmäßig ausgeübt werden kann

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt in seiner Entscheidung erstmalig klar, dass Art. 4 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) eine positive Verpflichtung der Vertragsstaaten beinhaltet, Betroffenen von Menschenhandel ein Recht auf Schadenersatz gegen Täter*innen wegen entgangenem Lohn einzuräumen. Er macht deutlich, dass Entschädigung der Betroffenen aus menschenrechtlicher Sicht die wichtigste Überlegung sein sollte. Ob Prostitution eine durch innerstaatliches Recht verbotene Tätigkeit ist bzw. ob der Verdienst sittenwidrig erlangt wurde, ist dafür nicht entscheidend.

Sachverhalt

Die 1985 geborene Klägerin lebte bis 2012 mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf in Bulgarien. Bereits im Alter von 26 Jahren lernte sie X kennen, einen 31-jährigen Mann aus einem 70 km entfernten Dorf. Seine Arbeit bestand darin, Prostituierte zu ihren Arbeitsorten hinzubringen und abzuholen. Er verkehrte mit Zuhältern und war zumindest wegen schweren Diebstahls bereits bestraft.

Nach einem Streit mit ihren Eltern schlug X der Klägerin vor, bei ihm und seiner Familie zu leben, was die Klägerin annahm. X unterhielt zur Klägerin eine intime Beziehung. Wenige Tage nach dem Umzug erzählte X ihr, wie viel Geld sie durch Sexarbeit am Autobahnring von Sofia verdienen könne und bot ihr an, sie jeden Tag hinzubringen und abzuholen. Sie könne währenddessen kostenfrei bei ihm leben. Sie willigte ein, woraufhin X sie mit Kleidung für Sexarbeit ausstattete, ihr die Preise für unterschiedliche sexuelle Handlungen erklärte und in den Umgang mit Freiern einwies. Vor Problemen mit Freiern und der Polizei wolle er sie schützen. Ab Mai 2012 arbeitete sie von ca. 15.00 bis 21.00 Uhr, mitunter auch bis nach Mitternacht, täglich am Autobahnring. In der Zeit von Mai bis Juni wurde sie vier Mal von der Polizei verhaftet. Ab Juli wollte die Klägerin die Tätigkeit aufgeben, tat dies aber aus Angst vor Xs Reaktion nicht. Zur Frage, ob X sie während dieser Zeit bedroht hat, machte die Klägerin im Laufe des Verfahrens widersprüchliche Aussagen. Zunächst bestritt sie, von X zu dieser Zeit Drohungen erhalten zu haben. Später gab sie an, von ihm geschlagen worden zu sein und von ihm in Aussicht gestellt bekommen zu haben, dass er ihrer Familie und im Dorf erzähle, dass sie als Prostituierte tätig sei. Er habe auch gedroht, sie in ihr Dorf zurückzubringen. Im Juli 2012 floh sie und ging Ende August in ihr Dorf zurück. Sie erzählte ihrer Familie, dass sie als Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft gearbeitet hätte. Wenige Tage später kam X zu ihr und überredete sie, die Sexarbeit wieder aufzunehmen, weil er und seine Familie auf ihre Einnahmen angewiesen seien. Er nahm ihr den Personalausweis ab, damit sie nicht weglief. Sie sah keine andere Möglichkeit, als die Sexarbeit wieder aufzunehmen, was sie bis 13.02.2013 tat. Bis dahin wurde sie insgesamt 7 Mal von der Polizei verhaftet. X nahm ihr das verdiente Geld ab, kaufte für sie ein und ließ ihr ein Taschengeld. Am 13.02.2013 flüchtete sie ein zweites Mal. Sie rief X am nächsten Morgen an und sagte ihm, dass sie nicht mehr als Sexarbeiterin arbeiten wollte, woraufhin er sie bedrohte und ankündigte, in ihrem Dorf zu erzählen, was sie arbeite. Sie willigte ein, zurückzugehen, weil sie befürchtete, dass er ihren Eltern von ihrer Prostitutionstätigkeit erzählen würde. Am 15.02.2013 vertraute sie sich zwei Polizeibeamten auf dem Autobahnring an und bat um Hilfe. X wurde auf die Polizeiwache vorgeladen, wo er ihren Personalausweis aushändigte. Die Klägerin wurde in eine Krisenunterkunft in Sofia gebracht und später in eine Notunterkunft in eine andere Stadt verlegt. Im Juni 2013 wurde sie in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen, aus dem sie auf Initiative ihrer Eltern entlassen wurde. Nach dem 15.02.2013 wurde sie von X angerufen und damit bedroht, dass er sie holen würde.

Das Strafverfahren gegen X wurde wegen Menschenhandels (ohne Tatmittel) und Anstiftung zur Prostitution aus Gewinnabsicht geführt. Eine Einziehung von Erlösen aus der Straftat fand nicht statt.

Entscheidungen der bulgarischen Vorinstanzen

In der ersten Gerichtsinstanz trat die Klägerin dem Verfahren als Nebenklägerin bei und stellte Anträge auf Ersatz des Vermögensschadens wegen entgangen Lohns und auf Ersatz des Nicht-Vermögensschadens wegen immaterieller Schäden. Der Antrag auf Ersatz des entgangenen Lohns wurde vom Gericht nicht zugelassen, da es sich um Geld handele, das durch unzüchtige und unsittliche Handlungen erlangt worden sei. Dabei bezog es sich auf ein bis 07.10.2022 gültiges Gesetz aus dem Jahr 1968, dass Handlungen unter Strafe stellt, durch die Einkünfte in `verbotener oder sittenwidriger Weise´ erzielt werden. Aus einer konkretisierenden Gerichtsentscheidung aus dem Jahr 1984 geht hervor, dass damit Arbeit aus verbotenen Berufen gemeint war, zu der in der damaligen real-sozialistischen Zeit Unternehmertum und Privatwirtschaft zählte, die als nicht `sozial nützlich´ galten. Prostitution und Zuhälterei fielen auch darunter. Das Gericht verurteilte X im Juni 2015 zu einer zweijährigen Haftstrafe und zu einer Geldstrafe in Höhe von 2.556,00 EUR. An die Klägerin sollte er zum Ersatz des immateriellen Schadens 1.023,00 EUR zahlen. Den Antrag auf Ersatz des entgangenen Lohns hatte die Klägerin wegen der Ausführungen des Gerichts vorher zurückgezogen.

Gegen das Urteil der Erstinstanz legte die Klägerin mit der Begründung Berufung ein, dass die Strafe zu milde sei. Im Oktober 2014 hob das Berufungsgericht das Urteil auf und verwies es zur erneuten Prüfung und Verhandlung an das erstinstanzliche Gericht zurück. Es bemängelte die Urteilsbegründung und die Beweisaufnahme.

Im erneuten Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht beantragte die Klägerin wieder Schadenersatz wegen immateriellen Schadens, diesmal in Höhe von 4.090,00 EUR. Sie begründete ihren Antrag mit den Auswirkungen der Bedrohungen durch X auf sie.

Darüber hinaus beantragte sie Ersatz des entgangenen Lohns in Höhe von 11.504,00 EUR, den sie während der neunmonatigen Arbeit als Prostituierte verdient habe. Die Kosten für Beherbergung, Bekleidung, Lebensmittel und Taschengeld seien bereits abgezogen. Die Klägerin trug vor, dass Prostitution keine Straftat sei und der Besteuerung unterliege. Die Einkünfte wären daher rechtmäßig und seien von X zu erstatten.

Das Gericht verurteilte X im Januar 2017 zu einer Haftstrafe von 3 Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Als Bewährungsauflagen hatte X an einem Programm zur beruflichen Qualifizierung und an einem Therapieprogramm teilzunehmen. Er wurde darüber hinaus zu einer Geldstrafe in Höhe von 2.045,00 EUR und zu einem Schadenersatz wegen immaterieller Schäden der Klägerin in Höhe von 4.090,00 EUR verurteilt. Der Ersatz des Vermögensschadens wurde abgeblehnt. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass jeder Vertrag über sexuelle Dienstleistungen gegen die guten Sitten verstoße und nichtig sei.

Gegen die Abweisung ihres Antrags auf Ersatz des entgangenen Lohns legte die Klägerin Berufung ein. Das Berufungsgericht wies ihren Antrag ab und schloss sich der Begründung der Vorinstanz an. Es vertrat zugleich die Ansicht, dass der entgangene Lohn vom Staat zugunsten der Staatskasse hätte eingezogen werden müssen.

Mit ihrer Klage vor dem EGMR macht die Klägerin eine Verletzung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit) geltend.

Entscheidungsgründe des EGMR

Der EGMR stellt fest, dass eine Verletzung von Art. 4 EMRK vorliegt.

Er macht umfangreiche Ausführungen zum Tatmittel und stellt klar, dass moderner Menschenhandel auch subtilere Mittel hervorbringt, wie Täuschung, psychologischen Druck und Ausnutzung der Hilflosigkeit. Solche Mittel dürften nicht isoliert betrachtet werden. Er macht Ausführungen zum Machtgefälle zwischen der Klägerin und X, indem er die Umstände der Klägerin, aus denen sich die Abhängigkeit ergab, beschreibt: X habe ihr Geld zurückgehalten, die Klägerin sei durch die intime Beziehung zu X emotional abhängig gewesen, er habe ihren Personalausweis einbehalten, wodurch ihre Bewegungsfreit beschränkt gewesen sei und er habe psychischen Druck auf sie ausgeübt, indem er vorgab, er und seine Familie seien von ihren Einnahmen finanziell abhängig und er würde ihrer Familie und ihren Nachbarn im Dorf von ihrer Tätigkeit als Prostituierte erzählen. Entscheidend sei nicht, dass sie in die Prostitution zunächst eingewilligt hat und auch nicht, dass sie sich früher hätte aus ihrer Lage befreien können. Der EGMR verweist in diesem Zusammenhang auf seine früheren Entscheidungen S.M. v. Kroatien (60561/14), V.L.C. und A.N. v. Großbritannien (77587/12 and 74603/12) und Zoletic u.a. v. Aserbaidschan (20116/12).

Der EGMR stellt erstmals klar, dass es eine positive Verpflichtung der Staaten gibt, Betroffene von Menschenhandel in die Lage zu versetzen, Ansprüche auf Schadenersatz gegen Täter*innen wegen entgangenem Lohn geltend zu machen. Er erinnert daran, dass der EGMR in der Vergangenheit einen generellen Rahmen der staatlichen Verpflichtungen zu Art. 4 EMRK aufgestellt hat. Dieser umfasse die Pflicht zur Schaffung eines Rechts- und Verwaltungsrahmens, der Menschenhandel verbietet und bestraft, die Pflicht, unter bestimmten Umständen operative Maßnahmen zu ergreifen, um Betroffene oder potenziell Betroffene von Menschenhandel zu schützen und eine verfahrensrechtliche Verpflichtung zur Untersuchung von Situationen, in denen Menschenhandel vermutet wird. Der EGMR verweist auf seine Entscheidungen Siliadin v. Frankreich (73316/01), Rantsev v. Zypern und Russland (25965/04), S.M. v. Kroatien (60561/14), L.E. v. Griechenland (71545/12), Chowdury u.a. gegen Griechenland (21884/15) und T.I. u.a. gegen Griechenland (40311/10).

Das Spektrum der Schutzmaßnahmen im innerstaatlichen Recht müsse ausreichend sein, um den wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu sichern. Auch andere Entscheidungen hätten bereits deutlich gemacht, dass der Schutz im Nachgang notwendig ist: V.L.C. und A.N. v. Großbritannien (77587/12 and 74603/12) zu Non-punishment und J. u.a. gegen Österreich (58216/12) zur Identifizierung und Unterstützung. Ähnliche Betrachtungen seien auch hinsichtlich des Schadenersatzes, insbesondere wegen entgangenen Lohns anzustellen. Es ginge dabei darum, finanzielle Mittel zu erlangen, um ein Leben aufzubauen, die Würde der Betroffenen zu wahren, die Erholung der Betroffenen zu unterstützen und ihr Risiko zu reduzieren, erneut Betroffene von Menschenhandel zu werden. All das habe keine nachrangige Bedeutung, sondern sei wesentlicher Bestandteil der staatlichen Reaktion auf Menschenhandel. Die Entschädigung der Betroffenen sollte aus menschenrechtlicher Sicht die wichtigste Überlegung sein. Der EGMR sieht in der Entschädigung auch einen Beitrag dafür, dass Täter*innen weniger im Stande seien, die Früchte ihrer Taten zu ernten und Anreize zur Begehung von Menschenhandel zu mindern. In der Möglichkeit, die Erlöse zur Entschädigung der Betroffenen einzusetzen, sieht er ein Mittel zur Entlastung der öffentlichen Hand. Für Betroffene biete die Möglichkeit zum Ersatz des entgangenen Lohns zusätzliche Anreize, Straftaten anzuzeigen, Menschenhandel ermitteln zu lassen, Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen und zukünftige Fälle zu verhindern.

Der EGMR weist ausdrücklich darauf hin, dass seine Interpretation im Palermo-Protokoll und auch in Art. 15 Abs. 3 der Europaratskonvention gegen Menschenhandel Unterstützung findet.

Schließlich stellt der EMGR klar, dass es dabei nicht um die Frage gehe, ob Verträge über Sexarbeit an sich rechtswidrig sind. Es ginge vielmehr um die Frage, ob eine positive Verpflichtung verletzt sei, die Betroffene in die Lage versetzt, von den Menschenhändler*innen Entschädigung zu verlangen. Ein solches Recht könne nicht mit der Begründung umgangen werden, dass der Verdienst sittenwidrig erlangt wurde.

Der EGMR weist die Klage der Klägerin gleichwohl ab, denn er sei nicht davon überzeugt, dass ein hinreichend direkter Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung von Art. 4 EMRK und dem von der Klägerin behaupteten Vermögensschaden bestehe. Um die finanziellen Folgen des Verstoßes zu beheben, sei die Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem bulgarischen Gericht möglich und geeignet.

Zum Ersatz des immateriellen Schadens sieht der EGMR 6.000,00 EUR als angemessen an.

 

Entscheidung im Volltext:

egmr_28_11_2023 (PDF, 458 KB, nicht barrierefrei)

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