Positive Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren zum Aufenthaltsrecht und zum Recht auf Sozialhilfeleistung eines*r Verwandten, dem*der zum Zeitpunkt der Leistungsbeantragung von einem*r Arbeitnehmenden mit Unionsbürgerschaft Unterhalt gewährt wird; entsprechende Anwendung von Art. 7 Abs. 1 d RL 2004/38/EG in Fallkonstellationen nach Einbürgerung; Konkretisierung von Art. 21 Abs. 1 und 45 Abs. 1 und 2 AEUV durch Art. 7 Abs. 2 Verordnung Nr. 492/2011; Gleichbehandlung und Diskriminierungsschutz; keine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates.
Die Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 d Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 2004/38/EG). Der EuGH hatte über die Frage zu entscheiden, ob Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG einem nationalen Gesetz entgegensteht, das den Behörden eines Mitgliedstaates erlaubt, einem*r Verwandten in gerader aufsteigender Linie, der*die zum Zeitpunkt der Beantragung von Sozialhilfeleistungen von einem*r Arbeitnehmenden mit Unionsbürgerschaft Unterhalt erhält, Sozialhilfeleistung zu versagen oder sogar das Recht zu entziehen, sich für mehr als drei Monate in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten. Er hatte damit darüber zu entscheiden, ob Sozialhilfeleistungen in solchen Fällen versagt bzw. das Aufenthaltsrecht mit der Begründung entzogen werden könne, dass die verwandten Antragstellenden keinen Unterhalt mehr von den Arbeitnehmenden mit Unionsbürgerschaft beziehen (wodurch das Abhängigkeitsverhältnis zum*zur Unionsbürger*in entfällt) und die Sozialhilfeleistungen dieses Staates unangemessen in Anspruch nehmen würden. Im Ergebnis entscheidet der EuGH, dass Art. 7 Abs. 1 d RL 2004/38/EG einer nationalen Regelung entgegensteht, die einem*r solchen Verwandten Sozialleistungen versagt und das Recht zum Aufenthalt entzieht. Es ist danach rechtmäßig, dass der Sozialhilfebezug den zuvor erhaltenen Unterhalt nicht mehr notwendig macht. Eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen eines Staates liege darin nicht.
Der Fall betrifft die rumänische Staatsangehörige GV. Ihre Tochter, AC, die ebenfalls rumänische Staatsangehörige ist, wohnt und arbeitet in Irland. AC hatte durch Einbürgerung auch die irische Staatsangehörigkeit erworben. GV hielt sich über viele Jahre mehrmals in Irland auf. Sie war finanziell von ihrer Tochter abhängig, die ihr regelmäßig Geld schickte. Seit 2017 wohnt GV mit ihrer Tochter in Irland und stellte im September 2017 wegen der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes infolge von Arthritis einen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe (Invaliditätsbeihilfe). Der Antrag und der Widerspruch wurden mit der Begründung abgelehnt bzw. zurückgewiesen, dass GV kein Aufenthaltsrecht in Irland habe. Eine erneute Überprüfung des Widerspruchsbescheids ergab, dass die Sozialbehörde den Antrag auf Sozialhilfeleistungen weiterhin ablehnte, aber das Aufenthaltsrecht nicht mehr bestritt. Eine nochmalige Überprüfung des Leiters der Widerspruchsbehörde ergab ebenso, dass ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen nicht bestünde. Er führte weiter aus, dass andernfalls die nationalen Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch genommen wären, was das Aufenthaltsrecht beseitige.
GV erhob vor dem High Court (Hohen Gericht in Irland) erfolgreich Klage. Gegen das Urteil des High Court legte der Leiter der Widerspruchsbehörde Berufung beim Court of Appeal (Berufungsgericht in Irland) ein. Das Berufungsgericht hat dem EuGH diesen Fall mit der Frage vorgelegt, ob in EU-Mitgliedstaaten Personen wie GV ein Aufenthaltsrecht und auch einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen haben.
Der EuGH stellt zunächst klar, dass AC seit ihrer Einbürgerung nicht mehr den Bestimmungen der RL 2004/38/EG unterliegt. Gleichwohl verweist der EuGH auf sein Urteil vom 14. November 2017, C-165/16, wonach AC auch nach der Einbürgerung weiterhin die Rechte aus Art. 21 Abs. 1 AEUV (Recht der Unionsbürger*innen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten) und Art. 45 Abs. 1 AEUV (Freizügigkeit) genießt und insbesondere in dem Mitgliedstaat ein normales Familienleben führen können soll, indem sie mit ihren Familienangehörigen zusammenlebt. Unionsbürger*innen in der Situation von AC müssten nach Art. 45 AEUV in der Konkretisierung nach Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 gleichbehandelt werden. Die Voraussetzungen für die Gewährung sozialer Vergünstigungen dürfe für Personen wie AC/GV nicht strenger sein als für arbeitnehmende Unionsbürger*innen in anderen Mitgliedstaaten ohne Einbürgerung.
Dem EuGH zufolge beseitigt der Bezug von Sozialhilfeleistungen auch nicht das Aufenthaltsrecht, wie der irische Minister für Beschäftigung und Sozialschutz meinte. Letzterem zufolge hätte die Zahlung der Sozialhilfe zur Folge, dass GV nicht mehr die Voraussetzungen von Art. 2 Nr. 2 d RL 2004/38/EG erfülle und sie ihr abgeleitetes Aufenthaltsrecht verlieren würde. Nach Art. 2 Nr. 2 d RL 2004/38/EG sind Familienangehörige u.a. Verwandte in gerader aufsteigender Linie von Unionsbürger*innen, die ihnen Unterhalt gewähren. Wenn die RL 2004/38/EG nicht mehr für sie gelte, würde sie die Sozialleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen. Der EuGH weist unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 16. Januar 2014, C-423/12, darauf hin, dass das Abhängigkeitsverhältnis zu dem Zeitpunkt des Antrags auf Familiennachzug im Herkunftsland des Familienangehörigen bestehen muss. Das abgeleitete Aufenthaltsrecht besteht gem. Art. 14 Abs. 2 RL 2004/38/EG fort, solange der*die Verwandte Unterhalt erhält. Der EuGH stellt fest, dass GV zum Zeitpunkt der Antragstellung ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zustand, weil sie sowohl zum Zeitpunkt des Nachzugs nach Irland als auch zum Zeitpunkt des Antrags auf Sozialhilfeleistung auf den Unterhalt von ihrer Tochter angewiesen war. Die Gewährung einer Sozialhilfeleistung im Aufnahmemitgliedstaat berührt die Eigenschaft als Verwandte*r in aufsteigender Linie im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der RL 2004/38 nicht und somit nicht den Anspruch auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht.
Schließlich könnten sich Personen wie GV (Verwandte, denen Unterhalt gewährt wird) als mittelbare Nutznießende der Wanderarbeitnehmenden zuerkannten Gleichbehandlung auf Art. 7 Abs. 2 Verordnung Nr. 492/2011 berufen, um Sozialhilfe zu erhalten. Dieser Artikel schütze vor Diskriminierungen, denen Wanderarbeitnehmende und deren Familienangehörige im Aufnahmemitgliedstaat ausgesetzt sein könnten. Der EuGH erinnert daran, dass das Ziel des Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 iVm Art. 2 Nr. 2 d, Art. 7 Abs. 1 a und d sowie Art. 14 Abs. 2 RL 2004/38/EG ist, die Freizügigkeit der Arbeitnehmenden zu fördern, da sie es erlaubt, bestmögliche Bedingungen für die Integration der Familienangehörigen von Unionsbürger*innen zu schaffen, die von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht und im Aufnahmemitgliedstaat eine Beschäftigung ausgeübt haben. Insoweit weist der EuGH darauf hin, dass ein*e Wanderarbeitnehmer*in mit den Abgaben, die er*sie an den Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen seiner ausgeübten Erwerbstätigkeit entrichtet, zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Mitgliedstaats beiträgt und folglich davon unter den gleichen Bedingungen profitieren muss wie die inländischen Arbeitnehmenden. Übermäßige finanzielle Belastung für den Aufnahmemitgliedstaat zu vermeiden, rechtfertige dem EuGH zufolge keine Ungleichbehandlung von Wanderarbeitnehmenden und inländischen Arbeitnehmenden.
Entscheidung im Volltext: