VG Karlsruhe, Urteil vom 15.11.2023
Aktenzeichen A 4 K 1753/23

Stichpunkte

Positive Entscheidung im Asylverfahren um eine Abschiebeandrohung gegen eine Nigerianerin mit deutschem Kind; inlandsbezogenes Abschiebehindernis bei drohender Trennung der Kernfamilie und Unmöglichkeit der zeitnahen Wiedervereinigung in anderem Staat; Schutz der Familieneinheit und des Kindeswohls; umfassende Ausführungen zur Situation in Nigeria

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) hebt eine Abschiebeandrohung gegen eine nigerianische Klägerin und ihr 6 Monate altes (deutsches) Kind auf. Die Frau war 2018 schwanger über Italien nach Deutschland eingereist und hatte beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angegeben, ihr Asylantrag in Italien sei abgewiesen worden. Aus Nigeria sei sie wegen drohender Beschneidung ausgereist. Eine Freundin habe sie mit nach Libyen genommen, wo sie sich hätte prostituieren sollen, was sie aber abgelehnt habe. Ihren Mann und Vater ihres ungeborenen Kindes habe sie in Libyen kennengelernt, er habe ihr geholfen nach Italien zu kommen. Der Asylantrag der Frau wurde abgelehnt und die Abschiebung angeordnet. Hiergegen erhob die Frau Klage und beantragte einstweiligen Rechtsschutz, der gewährt wurde. Im November 2018 wurde ihre erste Tochter geboren. Zwischenzeitlich hatte Deutschland von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht und das Verfahren war zunächst eingestellt worden. Mit Bescheid vom März 2023 lehnte das BAMF erneut den Asylantrag ab und drohte Abschiebung nach Nigeria an. In ihrer Klagebegründung macht die Frau geltend, dass der Vater ihrer zweiten, 2023 geborenen Tochter die deutsche Staatsangehörigkeit habe, ihre Tochter diese daher auch erhalten werde. Sie lebe mit dem Vater zusammen und wolle ihn heiraten. Darüber hinaus machte sie eine Bedrohung durch Genitalverstümmelung und Zwangsprostitution im Falle der Rückkehr geltend.

Das VG setzt sich umfassend mit dem Vorbringen der Klägerin und der Situation in Nigeria in Bezug auf Genitalverstümmelung auseinander, sieht eine Gefahr für die Klägerin konkret jedoch nicht gegeben. Eine Bedrohung durch die `Madames´ habe die Klägerin auch selbst nicht mehr geltend gemacht, für diesen Fall sähe das Gericht auch eine inländische Fluchtmöglichkeit für die Frau.

Ebenfalls stellt das VG ausführlich die Situation und Erwerbsmöglichkeiten alleinstehender junger Frauen dar, die zwar schwierig sei, gleichwohl kommt das VG zu der Überzeugung, dass es der Klägerin, die mit den Gegebenheiten in Nigeria vertraut sei, gelingen würde, mit Unterstützung von Hilfsorganisationen den Lebensunterhalt für ihre Tochter und sich zu erwirtschaften, so dass ihr bezogen auf die Lebensverhältnisse keine unmenschliche Behandlung drohe.

Gründe für eine Flüchtlingsanerkennung oder subsidiären Schutz sieht das VG daher nicht gegeben.

Das VG stellt jedoch ein inlandbezogenes Abschiebehindernis fest. Es beruft sich in seinen Ausführungen hierzu auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 15.02.2023, 14.01.2021 und 11.03.2021, wonach das Wohl des Kindes und familiäre Bindungen in allen Stadien des Verfahrens bei Rückführungsentscheidungen zu berücksichtigen seien. Sofern Anhaltspunkte vorlägen, dass bei Vollzug der Abschiebung eine Trennung von der Kernfamilie auf unabsehbare Zeit drohe, da eine Wiederherstellung der Familieneinheit weder im Herkunfts-, noch in einem anderen Staat absehbar seien, stellten das Kindeswohl und der Schutz der Familieneinheit ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß der sogenannten Rückführungsrichtlinie (2008/115/EG) i.V.m. der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) und der UN-Kinderrechtskonvention dar, die dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegenstünden. In Verfahren von Asylkläger*innen mit sich rechtmäßig in Deutschland aufhaltenden Angehörigen der Kernfamilie sei nicht davon auszugehen, dass zeitnah eine Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Herkunfts- oder in einem anderen Staat stattfinden könne, so dass in diesen Fällen wegen entgegenstehendem EU-Recht keine Abschiebeandrohung erlassen werden dürfe.  

Dies gelte für die Klägerin, da ihre Tochter über ihren deutschen Vater nach § 4 Abs. 1 S. 1 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) durch Geburt ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit erworben habe. Der Vater habe auch die nötigen Formalien, wie eine Vaterschaftsanerkennung, abgegeben. Außerdem sah das Gericht eine gemeinsame elterliche Sorge und familiäre Lebensgemeinschaft gegeben.

Der Klägerin drohe daher für den Fall einer Abschiebung die Trennung von ihrem Kind, denn diesem sei aufgrund seiner deutschen Staatsangehörigkeit nicht zumutbar, mit der Mutter (und dem Vater) nach Nigeria auszureisen, um dort mit ihr zusammen zu leben. Zum Schutz des Kindeswohls und der Familie sei daher von einer Abschiebeandrohung abzusehen.

Kernpunkte

Nigeria; Berücksichtigung des Kindeswohls bei Rückführungsentscheidungen

 

Entscheidung im Volltext:

vg_karlsruhe_15_11_2023 (PDF, 87 KB, nicht barrierefrei)

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