VG Göttingen, Urteil vom 19.3.2024
Aktenzeichen 3 A 201/21

Stichpunkte

Erfreuliche Entscheidung im Asylverfahren um Flüchtlingsanerkennung für von Zwangsheirat betroffene Guineerin; umfassende Darstellung der aktuellen Rechtsprechung des EuGH zu Frauen als `bestimmte soziale Gruppe´ sowie der Situation der Frauen in Guinea

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) spricht einer Guineerin die Flüchtlingseigenschaft zu. Die Frau war im August 2019 von Guinea über Portugal und Frankreich nach Deutschland eingereist und hatte Asyl beantragt. Bei ihrer Anhörung gab sie an, sie habe in Paris studiert und sei von dort von einem Onkel unter dem Vorwand, ihre Mutter sei schwer erkrankt, nach Guinea zurück gelockt worden. Dort sei sie von ihrem Onkel gegen ihren Willen mit einem ihr unbekannten Mann verheiratet worden. Sie habe mit diesem und seinen zwei weiteren Frauen zusammenleben müssen und sei von ihm misshandelt und vergewaltigt worden. Mithilfe einer Freundin sei ihr die Flucht über Portugal und Frankreich nach Deutschland gelungen. In Frankreich habe sie jedoch nicht bleiben können, da dort viele ihrer Familienangehörigen lebten. Sie habe ihr Studium auch nicht fortsetzen können, da sie die Studiengebühren nicht ohne die finanzielle Hilfe ihres Vaters habe zahlen können. Dieser würde sie wegen ihrer Flucht vor dem Ehemann nicht weiter unterstützen. Die Frau machte außerdem ein Abschiebeverbot unter Vorlage von Attesten zum Beleg einer posttraumatischen Belastungsstörung geltend.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnt den Antrag ab und droht die Abschiebung an. Das Vorbringen der Frau sei nicht asylrelevant, weder die Zwangsheirat noch die Vergewaltigungen in der Ehe knüpften an Verfolgungen wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe an. Auch seien ihre Angaben nicht glaubhaft. 

Das VG sieht dies anders. Es ist der Ansicht, die Klägerin habe durch ihre in der mündlichen Verhandlung gemachten Aussage eventuell bestehende Zweifel ausräumen können und führt aus, warum es diese für sehr glaubhaft hält.

Die Klägerin sei damit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2, Nr. 1 und 6 Asylgesetz (AsylG) ausgesetzt.

Das Gericht verweist auf die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der in seinem Urteil vom 16.01.2024 klargestellt habe, dass Frauen eines Herkunftslandes auch insgesamt und nicht nur als enger eingegrenzte Gruppe eine `bestimmte soziale Gruppe´ darstellen können. Als Frau, die aus einer Zwangsehe und vor Misshandlungen in der Ehe geflohen sei und in einem Land wie Guinea, in dem gegen Zwangsehen und eheliche Gewalt nicht vorgegangen würde, sei die Klägerin als Angehörige einer solchen `bestimmten sozialen Gruppe´ anzusehen.

Das VG stellt unter Heranziehung verschiedener Länderberichte die Situation der Frauen in Guinea dar und kommt zu dem Schluss, dass es zwar Gesetze gegen Zwangsheirat und auch Vergewaltigung in der Ehe gäbe, diese würden aber nicht, oder nur in Ausnahmefällen angewendet bzw. durchgesetzt. Vielmehr ließe sich feststellen, dass in Guinea eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz für häusliche Gewalt bestehe. Seitens des Staates gäbe es keinen effektiven und umfassenden Schutz dagegen.

Es bestünde auch keine inländische Fluchtmöglichkeit im Sinne von § 3e AsylG, da die Klägerin ohne Unterstützung der Familie ihr Existenzminimum nicht erwirtschaften könne und sie darüber hinaus wahrscheinlich auch im gesamten Land nicht vor ihrer Familie sicher wäre.

Kernpunkte

Vergewaltigung in der Ehe; Frauen als asylrelevante soziale Gruppe

 

Entscheidung im Volltext:

vg_goettingen_19_03_2024 (PDF, 228 KB, nicht barrierefrei)

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