BSG, Urteil vom 20.9.2023
Aktenzeichen 4 AS 8/22 R

Stichpunkte

Klarstellendes Urteil zur Grundsicherung für Arbeitsuchende; kein Leistungsausschluss für Ausländer*innen mit fünfjährigem gewöhnlichem Aufenthalt; Unterbrechungen in der Meldung und kurzfristige Inhaftierung lassen gewöhnlichen Aufenthalt nicht zwangsläufig entfallen; Anspruch nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II

Zusammenfassung

Der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) weist die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund (SG) vom 26.01.2022 zurück und bestätigt den Anspruch des Klägers auf Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, lebt seit 2009 in Deutschland und ist seitdem mit Unterbrechungen im Inland gemeldet. Im Jahr 2016 verbüßte er eine dreitägige Freiheitsstrafe wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe. Seinen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 17.01.2018 ab. Das SG hob den ablehnenden Bescheid auf und verurteilte den Beklagten zur Zahlung von Leistungen für die Zeit vom 01.01.2018 bis zum 28.02.2019. Der Kläger sei nicht vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da er seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit 2009 im Bundesgebiet hat, obwohl er nicht durchgehend in Deutschland gemeldet war.

Das BSG weist die Revision des Beklagten gegen die Entscheidung des SG zurück und bestätigt, dass der Kläger die Voraussetzungen für den Bezug von Grundsicherung für Arbeitsuchende gem. § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erfüllt. Der Kläger sei nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 lit. a und b, S. 4 bis 7 SGB II a.F. von Leistungen ausgeschlossen. Danach erhielten Ausländer*innen, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, grundsätzlich keine Grundsicherung für Arbeitsuchende. Feststellungen dazu hat das Gericht der Vorinstanz zwar nicht gemacht, es greife aber zugunsten des Klägers die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II ein. Danach sei der Kläger leistungsberechtigt, weil er einen ununterbrochenen gewöhnlichen Aufenthalt von fünf Jahren in Deutschland habe, seitdem er sich erstmalig gemeldet hatte. Lediglich unwesentliche Unterbrechungen des Aufenthalts – etwa ein kurzer Heimatbesuch – seien unschädlich; ansonsten beginne die Fünfjahresfrist wieder neu zu laufen.

Einen gewöhnlichen Aufenthalt habe eine Person dort, wo sie sich unter Umständen aufhalte, die erkennen ließen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Jedenfalls im konkreten Fall sei der gewöhnliche Aufenthalt des Klägers durch die Inhaftierung nicht aufgegeben worden. Dies ergebe sich aus der kurzen Dauer der Inhaftierung des Klägers von nur drei Tagen.

Auch die kurzzeitigen Unterbrechungen in der Meldung des Klägers seien für den Lauf der Fünfjahresfrist unschädlich. § 7 Abs. 1 S. 5 SGB II regele lediglich die Voraussetzungen für den Beginn der Fünfjahresfrist. Der Regelung lasse sich nicht entnehmen, dass neben dem Erfordernis des gewöhnlichen Aufenthalts auch die durchgehende Meldung im Inland Voraussetzung sei.

Schließlich greife auch die Einschränkung des § 7 Abs. 1 S. 4, 2. HS SGB II nicht ein. Dies sei der Fall, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 des Freizügigkeitsgesetzes (FreizügG/EU) durch die zuständige Ausländerbehörde wirksam durch Verwaltungsakt gegenüber dem*der Ausländer*in festgestellt worden sei. Daran fehle es im vorliegenden Fall.

 

Entscheidung im Volltext:

BSG_20_09_23 (PDF, 470 KB, nicht barrierefrei)

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