Positive Entscheidung im Asylverfahren um Flüchtlingsanerkennung für von Genitalverstümmelung bedrohte Liberianerin; zur Situation der Frauen in Liberia, insbesondere zur Genitalverstümmelung im Erwachsenenalter
Das Verwaltungsgericht (VG) verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einer Liberianerin die Flüchtlingsanerkennung zuzusprechen. Die Frau hatte Liberia 2014 verlassen und war mit Zwischenaufenthalten in verschiedenen afrikanischen Ländern über Spanien und Frankreich 2020 in Deutschland eingereist und hatte Asyl beantragt. Bei ihrer Anhörung vor einer Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifisch Verfolgte, Traumatisierte und Folteropfer sowie Opfer von Menschenhandel gab sie an, in Liberia eine 10-jährige Tochter und einen 8-jährigen Sohn zu haben. Sie habe dort mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater und weiteren Geschwistern zusammengewohnt. Ihr Stiefvater habe sie das erste Mal mit 14 Jahren und danach wiederholt vergewaltigt und sei auch der Vater ihrer Tochter. Ihr Sohn sei von einem Christen, den sie geliebt habe und heiraten wollte. Die Familien sei jedoch dagegen gewesen, da sie selbst Muslimin sei. Den Sohn habe sie der Familie des Christen geben müssen und wisse nicht, wo er sei. Zu ihrer Tochter habe sie Kontakt. Ihre Mutter habe ihr die Vergewaltigungen durch den Stiefvater nicht geglaubt. Sie sei auch zur Polizei gegangen, die jedoch Geld und Beweise gefordert hätten. Beides hätte sie nicht gehabt. Die Polizei habe sie auch an ihren Stiefvater und dessen Freund verraten.
Im Alter von 12 Jahren sei sie beschnitten worden, so wie es im Volksstamm ihrer Mutter üblich sei. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie, erneut beschnitten zu werden. Außerdem fürchte sie, von ihrem Stiefvater weiter vergewaltigt und zwangsverheiratet zu werden.
Das BAMF lehnte den Antrag ab. Die von der Frau angegebene sexuelle und häusliche Gewalt und drohende Zwangsverheiratung stellten keine asylrelevanten Verfolgungsmerkmale im Sinne von § 3b Asylgesetz dar. Ebenso sah das BAMF keine hinreichend wahrscheinliche Gefahr einer erneuten Beschneidung.
Das von der Klägerin angerufene VG beurteilt dies anders und nimmt eine geschlechtsspezifische, allein an das Geschlecht der Klägerin anknüpfende Verfolgungshandlung an. Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin habe bei dieser im Alter von 12 Jahren zumindest eine Teilbeschneidung stattgefunden.
Das Gericht macht Ausführungen dazu, wann von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung auszugehen ist. Bei einer bereits erlittenen Vorverfolgung wie im Falle der Klägerin gelte die Beweiserleichterung des Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU). Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass der Klägerin danach im Falle einer Rückkehr mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine erneute Verfolgung drohe. Es stellt umfassend dar, dass die Klägerin sich als alleinerziehende Mutter mit einem Kind keine eigene Existenz aufbauen könne, sondern sich in die Strukturen ihrer Familie begeben und zur Sicherung ihrer Existenz eine Ehe eingehen müsse. Dies werde ihr nur möglich sein, wenn sie eine vollständige Beschneidung an sich vornehmen lasse. Die Klägerin habe in Liberia auch keine Möglichkeit, sich diesem Druck zu entziehen. Es habe dort zwar zwischenzeitlich ein Verbot der Genitalbeschneidung gegeben, dieses sei aber nicht befolgt und auch wieder außer Kraft gesetzt worden. Das Gericht macht detaillierte Ausführungen zur Situation der Genitalverstümmelung auch im Erwachsenenalter unter Verweis auf weitere Berichte.
Da der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute geschlechtsspezifische Verfolgung drohe und sie auch keine Möglichkeiten habe, in anderen Landesteilen Liberias als Alleinerziehende ihre Existenz zu sichern, stehe ihr die Flüchtlingseigenschaft zu.
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