Verletzung von Artikel 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit) – Pflicht zur Untersuchung von Menschenhandelsvorwürfen
Die nigerianische Staatsangehörige T.V. erhob eine Beschwerde vor dem EGMR gegen Spanien wegen der unzureichenden Ermittlungen zu ihren Vorwürfen des Menschenhandels und der Zwangsprostitution. Die Beschwerdeführerin gab an, ein Bekannter der Familie habe ihr angeboten, sie nach Spanien zu bringen und ihr dort Arbeit zu verschaffen. Im Gegenzug solle sie 70.000 EUR von dem Geld, das sie in Spanien verdienen würde, an ihn zurückzahlen. Über die Art der Arbeit habe sie zunächst nichts erfahren. Daraufhin sei sie im Jahr 2003 im Alter von 14 Jahren mit einem gefälschten Reisepass, der sie als volljährig auswies, von Nigeria nach Spanien gereist. Dort sei sie von dem Bekannten kontrolliert und zur Prostitution gezwungen worden. 2007 sei ihr die Flucht gelungen. Nachdem sie Unterstützung von einer Nichtregierungsorganisation erhalten hatte, erstattete sie im Jahr 2011 schließlich Anzeige wegen Menschenhandels und Zwangsprostitution bei den spanischen Behörden. Sie berichtete detailliert über ihre Erfahrungen, darunter rituelle Drohungen mit „Voodoo“, die ihr Angst eingeflößt und sie von einer früheren Anzeige abgehalten hätten, sowie über Clubs, in denen sie gearbeitet habe.
Nach der Anzeige leiteten die spanischen Behörden im Juni 2011 Ermittlungen ein und gewährten der Beschwerdeführerin den Status einer geschützten Zeugin. Wesentliche Schritte in der Untersuchung, wie die Befragung von Verdächtigen und Zeugen, wurden jedoch erst 2013 eingeleitet. Weitere Maßnahmen, wie die Befragung der mutmaßlichen Haupttäter*innen, erfolgten erst 2014. Die Beschwerdeführerin bemängelt, dass die Ermittlungen in den ersten zwei Jahren nur sehr zögerlich vorankamen. Zudem seien offensichtliche Ermittlungsansätze, wie die Überprüfung der Aussagen der Betreiber*innen jener Clubs, in denen die Beschwerdeführerin angegeben hatte, zur Prostitution gezwungen worden zu sein, nicht konsequent verfolgt. Auch die widersprüchlichen Aussagen der Verdächtigen und die Beweise seien nicht ausreichend untersucht worden.
Der Fall durchlief mehrere Instanzen und wurde 2017 schließlich vorläufig eingestellt. Das spanische Berufungsgericht stützte sich dabei maßgeblich auf widersprüchliche Altersgutachten, die die Schilderung der Beschwerdeführerin in Zweifel zogen. Die forensischen Berichte von 2015 und 2016 kamen zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführerin mindestens 18 Jahre alt war, als sie untersucht wurde, was laut dem Gericht implizierte, dass sie 2003 sechs Jahre alt gewesen wäre und in Widerspruch zu ihrer Angabe, mit einem gefälschten Erwachsenenausweis eingereist zu sein, stehe.
Der EGMR entschied einstimmig, dass Spanien gegen Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen hat. Der Gerichtshof stellt schwerwiegende Verfahrensmängel bei der Untersuchung der Vorwürfe des Menschenhandels fest. Die Beschwerdeführerin hat nach Überzeugung des EGMR glaubhaft behauptet, Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution geworden zu sein. Trotz einiger abweichender Elemente waren ihre Behauptungen detailliert und schlüssig. Auch die spanischen Behörden selbst hatten sie stets als Opfer von Menschenhandel betrachtet. Die Angaben der Vorwürfe wurden aber nicht hinreichend überprüft und ermittelt. Insbesondere kritisiert der Gerichtshof
Der EGMR hebt hervor, dass die Ermittlungen in einer Weise geführt wurden, die einer offensichtlichen Missachtung der Pflicht zur Untersuchung schwerwiegender Menschenhandelsvorwürfe gleichkommt. Die Begründung der spanischen Gerichte über die Einstellung des Verfahrens werden vom EGMR als oberflächlich und unzureichend gerügt.
Der EGMR urteilt, dass Spanien seine verfahrensrechtlichen Verpflichtungen gemäß Art. 4 EMRK verletzt hat, indem es den Fall nicht mit der erforderlichen Sorgfalt untersuchte. Spanien muss der Beschwerdeführerin eine Entschädigung in Höhe von 15.000 EUR für immaterielle Schäden und 12.000 EUR für Kosten und Auslagen zahlen.
Entscheidung im Volltext:
EGMR_10_10_2024_englisch (PDF, 350 KB, nicht barrierefrei)
Pressemitteilung_EGMR_10_10_2024_englisch (PDF, 139 KB, nicht barrierefrei)