EGMR, Urteil vom 24.10.2024
Aktenzeichen 48587/21 "B.B. gegen Slowakei"

Stichpunkte

Artikel 4 EMRK; Menschenhandel; Positive Verpflichtungen des Staates; Effektive Untersuchung; Verfahrensdauer; Schutz von Menschen mit besonderen Verletzlichkeiten

Zusammenfassung

Die Klägerin, eine slowakische Staatsbürgerin, befand sich seit ihrer Kindheit in staatlicher Obhut und später unter der Kontrolle einer Familie, die sie wirtschaftlich ausbeutete. In einer Phase der Obdachlosigkeit wurde die Klägerin an einen Mann übergeben, der sie nach Großbritannien brachte, wo sie unter seiner Kontrolle zur Prostitution gezwungen wurde. Nach ihrer Rückkehr in die Slowakei durch ein Programm zur Unterstützung von Betroffenen des Menschenhandels wurde sie in ein Schutzprogramm aufgenommen. Später wurde sie jedoch ausgeschlossen, als die slowakischen Behörden die Vorwürfe gegen den Mann, der sie zur Prostitution gezwungen hatte, auf Zuhälterei reduzierten, anstatt eine Untersuchung wegen Menschenhandels durchzuführen.


Der EGMR stellte fest, dass die slowakischen Behörden gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 4 EMRK verstoßen haben, da sie keine effektive Untersuchung der Menschenhandelsvorwürfe durchgeführt haben. Obwohl Anhaltspunkte für Menschenhandel vorlagen, wie etwa die Rekrutierung der Klägerin in einer sozialen und wirtschaftlichen Notlage und ihre systematische Ausbeutung, beschränkten sich die Ermittlungen auf den Vorwurf der Zuhälterei. Der Gerichtshof kritisierte insbesondere:

  • Fehlende Ermittlung wesentlicher Beweismittel:
    Die Behörden versäumten es, relevante Zeugen aus dem Umfeld der Klägerin und des Tatverdächtigen zu befragen, obwohl Hinweise auf eine mögliche finanzielle Transaktion zwischen der Familie und dem Tatverdächtigen vorlagen.
  • Unzureichende Kooperation mit britischen Behörden:
    Die Ermittlungen nutzten die verfügbaren Informationen aus Großbritannien nicht hinreichend, obwohl die britischen Behörden die Klägerin als potenzielles Opfer von Menschenhandel anerkannt hatten.
  • Verfahrensmängel und Verzögerungen:
    Die strafrechtlichen Ermittlungen zogen sich über einen Zeitraum von fast neun Jahren. Diese Verzögerung beeinträchtigte die wirksame Beweissicherung erheblich.
  • Fehlende Berücksichtigung der besonderen Verletzlichkeit der Klägerin:
    Die Klägerin litt unter einer psychischen Erkrankung und war in mehrfacher Hinsicht vulnerabel. Die Behörden hätten ihre Situation stärker berücksichtigen und Maßnahmen ergreifen müssen, um ihre Rechte im Verfahren zu schützen.


Der EGMR verurteilte die Slowakei zur Zahlung von 26.000 EUR wegen immaterieller Schäden sowie 15.000 EUR für Kosten und Auslagen. Erneut macht der EGMR damit klar, dass Staaten die Pflicht haben, bei Verdacht auf Menschenhandel gründlich und effektiv die Strafvorwürfe zu untersuchen, um den Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

 

Entscheidung im Volltext:

EGMR_24_10_2024 (243 KB, nicht barrierefrei)

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