VG Berlin, Beschluss vom 29.11.2024
Aktenzeichen 31 K 671/23 A

Stichpunkte

Bedeutender Beschluss im Asylverfahren zur Frage der Einstufung als sicherer Herkunftsstaat (hier Senegal), VG setzt Verfahren zur Vorlage beim EuGH aus; Frage, ob Einstufung als sicher auch dann zulässig, wenn bestimmte Personenkreise nicht sicher sind, sei klärungsbedürftig

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) beschließt das Asylverfahren eines Senegalesen auszusetzen und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit Fragen zur Einstufung eines Landes zum sicheren Herkunftsstaat vorzulegen.

Der senegalesische Kläger hatte in Russland studiert, war von dort aus im März 2023 nach Deutschland eingereist und hatte Asyl beantragt. Da Senegal als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a Asylgesetz (AsylG) gilt, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seinen Antrag ab, da bei diesen Ländern die gesetzliche Vermutung besteht, dass keine Gründe für Asyl vorliegen, es sei denn, die Antragssteller*innen können anderes durch entsprechenden Vortrag glaubhaft machen. Das BAMF sah keine Anhaltspunkte gegeben, die dafürsprächen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr ein ernsthafter Schaden drohe, auch herrsche kein Krieg im Senegal. Der Mann beantragte daraufhin einstweiligen Rechtsschutz mit der Begründung, dass die Bestimmung des Senegals zum sicheren Herkunftsstaat angesichts der dort herrschenden Menschenrechtslage gegen verfassungs- und unionsrechtliche Vorgaben verstoße.

Das VG macht umfassende Ausführungen zur Lage insbesondere der Frauen und Mädchen im Senegal und stellt dar, dass rund 25 % der Mädchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren von Genitalverstümmelung betroffen seien, in einigen Regionen sogar 90 %. Ebenso sei Zwangsverheiratung von insbesondere Minderjährigen trotz Verbots auf dem Lande verbreitet. Viele Kinder zwischen 3 und 15 Jahren würden von ihren Familien in Koranschulen geschickt (sog. Talibé-Kinder), wo sie in vielen Fällen zum Betteln auf der Straße missbraucht werden.

Homosexuelle Handlungen seien im Senegal strafbar und würden mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe geahndet. Auch sexuelle Minderheiten würden in der Gesellschaft diskriminiert. In der senegalesischen Verfassung sei zwar das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren vorgesehen, es käme aber weiterhin zu willkürlichen Verhaftungen und Inhaftierungen.

Deswegen legt die Kammer das Verfahren dem EuGH mit den Fragen vor, ob für die Bestimmung eines Staats zum sicheren Herkunftsstaat (landesweit) für alle Bevölkerungsgruppen Sicherheit bestehen müsse und was genau eine solche Bevölkerungsgruppe ausmache.

Das VG führt aus, der EuGH habe in Auslegung der Asylverfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) zwar in seinem Urteil vom 04.10.2024 (AZ C-406/22) entschieden, dass ein Drittstaat nicht als sicherer Herkunftsstaat eingestuft werden dürfe, wenn Teile seines Hoheitsgebiets nicht sicher seien (territorialer Aspekt). Offen sei jedoch noch die Frage, ob eine Einstufung als sicher erfolgen dürfe, wenn bestimmte Personengruppen nicht sicher seien (personengruppenbezogener Aspekt). Dies sei weiter klärungsbedürftig, auch weil hierzu die Mitgliedstaaten der EU unterschiedliche Ansichten verträten und z.B. Frankreich den Senegal schon wegen der Diskriminierung Homosexueller nicht als sicheren Herkunftsstaat einstufe.

Kernpunkte

sicherer Herkunftsstaat, Vorlage beim EuGH

 

Entscheidung im Volltext:

vg_berlin_29_11_2024 (PDF, 72 KB, nicht barrierefrei)

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