BFH, Urteil vom 14.7.2022
Aktenzeichen III R 28/21

Stichpunkte

Kindergeld – Ausschlussfrist für Wanderarbeitnehmer*innen – § 70 Abs. 1 EStG – Europäische Antragsgleichstellung

Zusammenfassung

Der Bundesfinanzhof (BFH) entschied, dass Wanderarbeitnehmer*innen aus der EU trotz der sechsmonatigen Ausschlussfrist des § 70 Abs. 1 S. 2 EStG unter bestimmten Voraussetzungen rückwirkend Kindergeld erhalten können. Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob im EU-Heimatstaat bereits ein Antrag auf Familienleistungen gestellt oder der zuständige Träger über den Sachverhalt informiert wurde.

Der Kläger, ein rumänischer Staatsangehöriger, war zwischen März und Mai 2019 als Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt. Im November 2019 beantragte er Kindergeld für seinen in Rumänien lebenden Sohn. Die Familienkasse lehnte den Antrag für die Monate März und April 2019 ab, da die gesetzliche Sechsmonatsfrist aus § 70 Abs. 1 S. 2 EstG für eine rückwirkende Zahlung bereits verstrichen war. Nach dieser Vorschrift erfolgt die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Der Kläger argumentierte, dass er bereits in Rumänien einen Antrag auf Familienleistungen gestellt habe. Deshalb müsse die sogenannte europäische Antragsgleichstellung nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 greifen. Diese Regelungen über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit stellt sicher, dass Anträge auf Familienleistungen, die in einem EU-Mitgliedstaat gestellt wurden, auch für andere Mitgliedstaaten als fristwahrend gelten können. Der Kläger legte Einspruch gegen die Ablehnung durch die Familienkasse ein, der jedoch zurückgewiesen wurde. Daraufhin erhob er Klage beim Finanzgericht Nürnberg, welches die Klage abwies und sich ebenfalls auf die Ausschlussfrist des § 70 Abs. 1 S. 2 EStG berief. Gegen dieses Urteil legte der Kläger Revision beim BFH ein.

Kein Ausschluss, wenn ein rechtzeitiger Antrag im EU-Heimatstaat existiert

Der BFH stellte klar, dass die Ausschlussfrist des § 70 Abs. 1 S. 2 EStG nicht automatisch greift, wenn für das Kind bereits ein Antrag auf Familienleistungen im Herkunftsland gestellt wurde. Auch eine Mitteilung an die zuständige Behörde im EU-Heimatstaat kann genügen, um das Antragsdatum als fristwahrend anzusehen. Dies gilt insbesondere für Wanderarbeitnehmer*innen, die in Deutschland tätig sind, deren Familien jedoch im Herkunftsland verbleiben.

Beweislast liegt beim Antragsteller

Der BFH führte zudem aus, dass Antragsteller*innen nachweisen müssen, dass entweder ein entsprechender Antrag oder eine Mitteilung im Herkunftsland innerhalb der sechsmonatigen Frist erfolgte. Zur Klärung kann ein Auskunftsersuchen an die zuständigen Behörden im Herkunftsland erforderlich sein. Vorliegend musste das zuständige Finanzgericht ein entsprechendes Auskunftsersuchen an den zuständigen Träger in Rumänien stellen, um aufzuklären, ob der Antrag dort rechtzeitig gestellt wurde. Sollte die Stellung eines entsprechenden Antrages hierdurch nicht erwiesen werden, liegt die objektive Beweislast beim Kläger. Das Finanzgericht Nürnberg hatte keine ausreichenden Feststellungen zur Frage getroffen, ob in Rumänien tatsächlich ein Antrag gestellt oder eine Mitteilung erfolgt war. Der BFH hob das Urteil deshalb auf und verwies die Sache zur erneuten Prüfung zurück.

Das Urteil verdeutlicht die Bedeutung der europäischen Koordinierung von Familienleistungen und stellt klar, dass nationale Ausschlussfristen nicht uneingeschränkt gelten. Entscheidend ist, ob im EU-Ausland bereits ein Antrag gestellt oder eine Meldung erfolgt ist. Die Entscheidung stärkt damit den Kindergeldanspruch von EU-Wanderarbeitnehmer*innen und zeigt, dass deutsche Behörden die europarechtlichen Vorgaben zur Antragsgleichstellung beachten müssen. Gleichzeitig betont das BFH-Urteil, dass die Beweislast beim Antragsteller liegt – Betroffene müssen selbst nachweisen, dass sie oder eine andere berechtigte Person rechtzeitig im Heimatstaat tätig wurden. Für Arbeitnehmer*innen aus anderen EU-Staaten, die in Deutschland arbeiten und Kindergeld beantragen, ergibt sich daraus eine wichtige Klarstellung: Sie sollten frühzeitig prüfen, ob sie oder eine andere antragsberechtigte Person in ihrem Herkunftsland bereits einen Antrag gestellt oder eine Mitteilung gemacht haben, um Fristprobleme zu vermeiden und den Kindergeldanspruch zu sichern.

 

Entscheidung im Volltext:

BFH_14_07_2022 (PDF, 55 KB, nicht barrierefrei)

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